Es reicht: Wie die Rahmenbedingungen öffentlicher Förderungen die Kinder- und Jugendarbeit kaputt machen.
13.12.2024
Ich schaue zurück auf das bisher schwerste kein Abseits!-Jahr. Ja, richtig – dieses Jahr war für mich und kein Abseits! sogar schlimmer als die Jahre der Corona-Pandemie. Gerade weil wir gewohnt waren, Krisen zu managen und weiterzumachen, immer wieder umzudenken, wenn sich Hindernisse ergeben und nach Rückschlägen und Enttäuschungen immer wieder aufzustehen und weiterzukämpfen, war für uns die schockierende Erkenntnis zum Anfang des Jahres umso schlimmer: So kann es einfach nicht mehr weitergehen. Denn wir hatten mit kein Abseits! und persönlich schon längst die Belastungsgrenze überschritten.
Im Frühjahr war ich nur noch erschöpft, leer und frustriert. Aber vor allem auch war ich in Trauer, überwältigt und in großer Sorge. Betroffen von den Entwicklungen in Berlin, Deutschland und der Welt und gleichzeitig an so vielen Fronten herausgefordert im täglichen Bestreben zumindest hier vor Ort einen Unterschied zu machen. Als Sozialunternehmerin arbeitet man meist daraufhin, dass man wirkungsvolle Lösungsansätze verstetigen kann und hat häufig den Anspruch, mit zunächst pilotierten Ansätzen in öffentliche Förderungen übernommen zu werden. So konnten auch wir in den letzten Jahren immer mehr öffentliche Fördermittelgebende von unseren Methoden und Angeboten überzeugen. 2024 betrug der Anteil der öffentlichen Förderungen 80 Prozent der Finanzierung unseres Vereins.
Was ich ursprünglich als erstrebenswertes Ziel – sozusagen als Endgame betrachtete – entpuppte sich jedoch als die größte Farce: Mit so viel öffentlicher Förderung standen wir schlechter da denn je!
Der Verwaltungsaufwand war immens gestiegen, für die Höhe der Förderungen häufig komplett unverhältnismäßig und zudem ineffizient für alle Seiten organisiert. Gleichzeitig gibt es im Rahmen der öffentlichen Förderungen nicht mal ausreichend Möglichkeiten dafür, den Verwaltungsaufwand, die Geschäftsleitung oder gar die Infrastruktur der Projekte überhaupt zu finanzieren. Der Workload bei Geschäftsleitung und Verwaltung war längst nicht mehr im gesunden Maße stemmbar. So bräuchten wir hier dringend zusätzliche personelle Unterstützung, während wir gerade so die existierenden Strukturen aufrechterhalten können.
Zudem wurde uns klar, dass bei den öffentlichen Förderungen Wirkungen und Mission in den Hintergrund rücken, vielmehr stehen auf einmal reine quantitative Messwerte und einengende „Produktbeschreibungen“ im Vordergrund. Ob Angebote so tatsächlich auf Bedarfe der Zielgruppe eingehen und wirkungsvoll sind, kann gar nicht festgestellt werden und wird auch nicht nachgefragt. Hauptsache man reportet jeden Monat im Rahmen der so genannten Kosten-Leistungsrechnung, welche den Wettbewerb innerhalb der bezirksübergreifenden Berliner Jugendarbeit fördern soll, wie viele Leistungsstunden man an der Zielgruppe erbracht hat. Für diese Leistungsstunden gibt es dann je nach Angebotsform Mediane, die festlegen, welcher Ressourceneinsatz für das jeweilige Angebot angebracht sei. In der mobilen Jugendarbeit lag dieser im Jahr 2024 beispielsweise bei 36 Euro!
36 Euro sollte möglichst eine Stunde Angebot an der Zielgruppe maximal kosten. Damit muss man nicht nur sein Fachpersonal finanzieren für die Durchführung der Angebote sowie Vor- und Nachbereitungszeit (welche jedoch nicht als Leistungsstunden zählen), sondern auch jeglichen Einsatz von Sachmitteln, Mobilen und sonstigen Kosten für Infrastruktur und Verwaltung. Dass diese Rechnung hinten und vorne nicht aufgeht, wenn man qualitativ hochwertige und wirkungsvolle Angebote durchführen möchte und gleichzeitig mit hauptamtlich qualifiziertem Personal arbeitet UND für einigermaßen faire Arbeitsbedingungen einsteht, kann sich jeder selbst schnell erschließen. Tatsächlich fördert dieses Berliner System der Kostenleistungsrechnung die prekären Bedingungen in der Sozialen Arbeit.
Im Ergebnis wurden Workload und Druck immer größer, während wir uns zumindest in einigen Projekten von unserem eigentlichen Ansatz und der Wirkungslogik immer mehr entfernten.
Zu allem Übel und den ohnehin schon schlechten Rahmenbedingungen kamen dann im Herbst zusätzlich auch noch Kürzungspläne des Berliner Senats dazu, welche im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie Familienförderung umgesetzt werden sollen und darüber hinaus viele soziale und kulturelle Angebote der Stadt massiv gefährden. Über den notwendigen und tatsächlich sogar gesetzlich verankerten Ausbau der Jugend- und Familienförderung haben wir in den letzten Jahren viel diskutiert, nur um jetzt zu erfahren, dass wir stattdessen wieder so viele Rückschritte in Kauf nehmen sollen und überhaupt keine Planungssicherheit mehr gegeben ist! Dies war für uns Anlass genug, das alles nicht mehr hinzunehmen und andere Träger zu mobilisieren und uns mit ihnen zusammenzuschließen. Denn die Jugend- und Familienförderung sind #unkürzbar!
Bei kein Abseits! war es uns schon immer ein wichtiges Anliegen, nicht nur unsere Organisation und unser Konzept stets weiterzuentwickeln und Vorbild zu sein, sondern auch systemisch zu wirken und Netzwerk- und Verbandsstrukturen mitaufzubauen und zu unterstützen. Diese Arbeit wird nun wichtiger denn je!
Aktuell versuchen wir uns immer noch zurückzukämpfen, uns neu zu sortieren und besser aufzustellen. Ob uns das gelingen wird, können wir aktuell noch nicht sagen. Aber wir können zumindest mit Dankbarkeit auf das Jahr zurückschauen und die Krise, in der wir oder vielmehr sich die Berliner Jugendarbeit und die öffentlichen Förderungen befinden als Chance und Entwicklungsbooster für uns einordnen. Denn der Schmerz und das Erwachen dieses Jahr, die folgende Analyse und das Schöpfen neuer Kraft und das Schmieden von Plänen haben uns als Verein und Team auch weitergebracht. Wir sind 2024 besonders dankbar für:
- die noch stärkere Verbundenheit und unseren Teamzusammenhalt,
- den Rückhalt von unseren Vereinsmitgliedern, unserem Vorstand sowie euch,
- all die zahlreichen tollen Aktivitäten, die wir dennoch umgesetzt haben in diesem Jahr,
- die vielen tollen Wirkungsergebnisse und positiven Geschichten, die wir mit unseren Zielgruppen gemeinsam geschrieben und ermöglicht haben,
- die vielen neuen Ideen und Ansatzpunkte, die wir gemeinsam entwickelt haben.
Doch was heißt das für die Zukunft von kein Abseits!? Wie wird es weitergehen:
- Wir sind uns einig, dass wir noch politischer werden müssen und wollen.
- Wir müssen uns finanziell anders aufstellen.
- Wir müssen noch mehr auf uns achten und die Reißleine ziehen, wenn ein geeigneter Umbau der Organisation doch nicht funktionieren sollte.
- Wir fokussieren uns wieder mehr auf unsere Mission, unseren Kern, unsere Wirkung, das Besondere bei kein Abseits! und sagen nein zu Zusammenarbeiten und Projekten, welche uns davon abbringen.
Wie könnt ihr uns dabei unterstützen?
- Macht mit bei Protestaktionen zum Beispiel vom #unkürzbar-Bündnis.
- Teilt mit uns oder politischen Entscheider*innen und potenziellen Unterstützer*innen, warum für euch kein Abseits! wichtig war/ist
- Öffnet uns Türen zu Kontakten/Netzwerken, Unterstützer*innen.
- Und vielleicht ist dies auch die Chance, dich wieder (mehr) bei uns ideell oder finanziell einzubringen?
Wir haben dieses Jahr gemerkt, wir sind verwundbar. Aber wir haben uns auch rückversichert, dass wir noch nicht mit unseren Ideen, unserer Kraft und unserem Veränderungswillen am Ende sind! Join the fight! Und lasst uns dabei immer gut und achtsam miteinander umgehen!
Alles Liebe für 2025 wünscht euch
Gloria
P.S. Wenn du merkst, dass dir gerade alles über den Kopf wächst, du dich müde und leer fühlst oder die Belastungen einfach zu groß werden, dann suche dir professionelle Unterstützung:
- Psychotherapeut*innen finden: www.116117.de
- Telefon-Seelsorge: 0800 1110111 oder 0800 1110222
- Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“ unter 0800 111 0 333
- Berliner Krisendienst: 030 3906300 oder www.berliner-krisendienst.de